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Journal

17.01.2024

Durch die Augen des Wiesels

«It was less like seeing than like being for the first time seen, knocked breathless by a powerful glance.»

Annie Dillard, «Pilgrim at Tinker Creek»

Die Stückentwicklung «Stein sein – Zur Beschreibung der Natur» unter der Regie von Manuel Bürgin hat sich intensiv mit den Texten der Pulitzer-Preisträgerin Annie Dillard auseinandergesetzt und bringt diese auf die Bühne. Doch wer ist die in der Schweiz eher unbekannte Autorin?

Annie Dillard schreibt auf ihrer Webseite: «Bitte benutzen Sie nicht Wikipedia. Es ist unzuverlässig; jeder kann alles schreiben, egal wie falsch es ist. In einem Artikel von Mary Cantwell werde ich zum Beispiel völlig falsch zitiert. Die Lehrerin in mir sagt: ‚Um etwas über einen Schriftsteller zu erfahren, muss man den Text lesen. Oder Texte.’» Damit bekommt man schon ein gutes Gefühl für Annie Dillard und ihre direkten und ehrlichen Texte.

Annie Dillard, 1945 in Pittsburgh geboren, wurde nach ihrem Anglistikstudium, welches sie 1968 abschloss, zur Ikone der Natur-Beschreibungen. Für ihr mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Buch „Pilgrim at Tinker Creek“ (Pilger am Tinker Creek) zog sich die damals 27-jährige Dillard für ein Jahr in die Blue Mountains zurück und setzte sich intensiv mit ihrer Umgebung und der Natur auseinander. Die Liebe zur Natur und ihre Gabe, auch kleinste Details auf- und wahrzunehmen, spiegeln sich auch in ihren Texten wieder. Annie Dillard beschreibt mit Ernsthaftigkeit und Tiefgründigkeit, was anderen entgehen würde und schafft es, mit Humor und Witz ihre Naturbeschreibungen interessanter erscheinen zu lassen, als die eigenen Spaziergänge und zugleich Lust auf mehr Natur zu machen. Sie gibt einem das Gefühl, mit ihr zusammen in den Blue Mountains gewesen zu sein und einem Wiesel in den Kopf geschaut zu haben. Sie weckt die Sehnsucht selbst hinauszugehen und mit allen Sinnen zu sehen, zu fühlen und zu erleben, was die Umwelt alles für einen bereit hält – und den Versuch zu starten, einem Stein das Sprechen beizubringen oder zumindest ihm zuzuhören.

Ein wichtiges erzählerisches Mittel, das in die Stückentwicklung von Theater Marie eingeflossen ist, ist die sichtbare und Hörbare Schrift: Auf einer Leinwand wird immer wieder mit eingeblendeten Texten gearbeitet. Manchmal ist dies eine Erzählung, beispielsweise über einen Mann, der einem Stein das Sprechen beizubringen versucht, und diese Erzählung entsteht scheinbar im Moment der Einblendung: Die Zuschauer:innen sehen lesend eine Erzähler:in oder Autor:in des Abend, der oder die ihre Gedanken entwickelt und aufschreibt, löscht, umschreibt. In anderen Momenten wird die Schrift als eingeblendete Zitate zum Thema genutzt, die kommentarhaft während des Spiels eingeblendet werden, manchmal sind es nur kurze Gedanken, Sätze, Fragen, die das Geschehen auf der Bühne scheinbar beiläufig begleiten. Diese Schrift ist inspiriert von Annie Dillard, denn ihre Bücher zu lesen fühlt sich stellenweise an, wie einer Autorin beim Denken und Schreiben beizuwohnen.

In der Stückentwicklung «Stein sein» wurden Texte aus dem erwähnten Werk «Pilger am Tinker Creek» und «Einen Stein zum Sprechen bringen» genutzt und unter Einbezug anderer und eigener Textquellen zu einem Theaterabend verflochten. Die Publikationen wurden von Judith Schalansky im Verlag Matthes & Seitz herausgegeben und von Karen Nölle ins Deutsche übersetzt. Zuletzt in Übersetzung erschienen ist ebendort von Annie Dillard «In der Zwischenzeit».

Hier gelangen Sie zu der Audioeinführung «von Stein sein»

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Foto: Phyllis Rose